En postkortbog på 6 sprog
En postkortbog på 6 sprog
German
30 JAHRE CHRISTIANIA.
Ein Postkartenbuch mit 40 farbigen Postkarten
Und Text in 6 Sprachen.
Von Irma Clausen und Politisk Revy 1996.
Nach meiner Ausbildung als anthropologischer Filmemacher bei Varan in Paris habe ich mich seit 1983 mit Filmen und Vorträgen über Christiania beschäftigt.
In den letzten Jahren habe ich auch als Guide in Christiania gearbeitet, und so bekam ich die Idee zu diesem Buch.
Ausgangspunkt waren die vielen Fragen, die ich als Guide und Bewohner von Christiania beantwortet habe. Auch auf meinen zahlreichen Vortragsreisen über Christiania in Neuseeland, Australien, Deutschland, Frankreich USA und Skandinavien hat man mir Fragen gestellt: wie lösen wir Probleme wie Drogenmißbrauch, Rassismus, soziale Netzwerke, Wirtschaft, Selbstverwaltung oder Jugendliche und Kinder.
Ich hoffe, daß dieses Buch sein Publikum findet, auch außerhalb Dänemarks, und daß es dazu beiträgt, daß Vorurteile über Christiania abgebaut werden.
Außerdem hoffe ich, daß dieses Buch für die vielen Besucher als Reiseführer dienen kann, mit dessen Hilfe sie sich orientieren und gleichzeitig Lebensstil und Alltag der Bewohner in der Freistadt respektieren können, so daß die Christianitten sich nicht wie Tiere im Zoo vorkommen. Mein Dank gilt allen, die mir bei diesem Buchprojekt in der einen oder anderen Weise geholfen und unterstützt haben.
Christiania, September 1996
Irma Clausen.
Christiania liegt fast mitten in Kopenhagen, nur einen Katzensprung von der hektischen City, und dennoch fühlt man sich hier wie auf dem Lande, weit weg von Streß und Lärm.
Unter dem offenen Himmel, zwischen Pflastersteinen, um die Ecke, in den Seitengäßchen – dort kannst Du CHRISTIANIA erleben, Geschichte und Zukunft zugleich, ein Milieu mit verborgenen Schätzen, eine ganz andersartige Umwelt, die nur darauf wartet, von Dir entdeckt zu werden:
Die FREISTADT CHRISTIANIA.
Hier kannst Du Ruhe geniessen und Freiheit empfinden, neue Energie auftanken, mit modernen wie kunterbunten Nuancen.
Die malerischen Häuser, alt wie neu, sehen aus wie eine Tüte voller Bonbons.
Vor mehr als 25 Jahren hieß das alles noch ”Bådsmandsstræde Kaserne”, als das Militär das Gelände vor einem Viertel Jahrhundert räumte, stand es leer und verfiel.
Zumeist junge Leute aus der Gegend besetzten die Kasernenanlage, ein bunter Haufen aus Künstlern, Studenten, Wohnungssuchenden, Hippies, der fest entschlossen war, das Ganze in eine FREISTADT zu verwandeln!
Hier leben nun etwa 1000 Leute auf 34 Hektar. Die Befestigungsanlage mit den Wällen, Gräben und Seen wurde von König Christian dem IV angelegt. Das älteste Haus, aus dem Jahre 1688, führt Dich daher weit zurück, in die Zeit des Dreissigjährigen Krieges, als Dänemark den Krieg gegen den Schwedenkönig verlor.
Heute hat CHRISTIANIA etwa 10.000 Besucher – täglich! Hier werden viele Zungen gesprochen und trotz des kosmopolitischen Flairs ist CHRISTIANIA mit seiner Lage am See und den 12 ”autonomen Dörfern” das Stadtviertel von Kopenhagen, wo Du die tolerante dänische Lebenseinstellung wohl am Besten erleben und spüren kannst.
Hier leben natürlich auch mehr als 200 Kinder, die ihren eigenen Kindergarten und andere Einrichtungen wie Freizeitheime haben. Die Kleinen finden das ungezwungene Leben hier einfach paradiesisch!
332 Frauen und fast doppelt so viele Männer aller Altersklassen leben hier zusammen, in einer Gemeinschaft mit emanzipierten Hunden, Pferden und anderen Tieren, in einer grossartigen Natur mit vielen, uralten Bäumen, und dort, wo keine waren, wurden neue gepflanzt. Meistens sind es die Mädchen, die die Pferde besteigen und Reiten lernen.
Hier gibt es mehr als 300 Arbeitsplätze, für die Bewohner wie für Leute aus der Umgebung. Hier kann man einfach lustig Traktor fahren, oder auch ein Handwerk erlernen, und will man sich sonst beruflich qualifizieren, liegen viele Ausbildungsstätte gleich in der Nähe.
Die grösste Attraktion für Touristen ist die PUSHERSTREET mit dem fast orientalisch anmutenden Marktplatz gleich daneben oder der Bäckerei ”Sonnenschein”. Das ist nur eine Stelle, die CHRISTIANIA so charmant und anziehend macht für die vielen Besucher aus Europa, ja aus der ganzen Welt.
Freilich, das Fotografieren ist hier nicht gern gesehen, und strikt untersagt sind harte Drogen, Rockermanieren und Autofahren – CHRISTIANIA versteht sich als autofreie Stadt. Die Kinder können sich nicht nur auf den vielen Spielplätzen tummeln, sondern auch in den Strassen –Sicher!
CHRISTIANIAs Natur ist nicht etwa eingezäunt, wie ein Park. Die vielen Bäume und Büsche vermitteln zusammen mit dem See Natur pur, deren Farbe mit den Jahreszeiten wechselt. Hier gibt es die graue Halle, die Opera und Musikloppen für Konzerte, oder Woodstock, Nemo, Mondfischer, das Schwulenhaus – Cafés, Bars und Kneipen.
Das Restaurant ”Spiseloppen” ist eines der besten Restaurants in Kopenhagen, wo Sie sich wohl fühlen können. Und für Vegetarier finden Sie ”Morgenstedet” im Herzen von CHRISTIANIA zu billigen Preisen. Ebenfalls ein Kino im Fabriksgebäude gibt Möglichkeit einen alten klassischen Film zu genießen.
In den letzten Jahren schießen überall eigenkonstruierte- und gebaute Häuser aus dem Boden. Das war nicht immer so. Anfangs gab es viel Platz, viele verschiedenartige Räumlichkeiten und phantastisch viel Energie, die hineingesteckt wurde in die Restaurierung und Einrichtung von bereits bestehenden Gebäuden und Räumen. Alte Pulverhäuser, Laboratorien, Militärwerkstätten usw. wurden in Wohnraum verwandelt, untraditionell und mit erstaunlichem Ideenreichtum, sodaß sich Privatleben in einer attraktiven Umgebung frei entfalten konnte.
Und weil so viele in CHRISTIANIA leben wollten, entstand später Mangel an Platz und Raum – deswegen wurden in den letzten Jahren neue Häuser gebaut, auf althergebrachter handwerklicher Basis, mit alten, gebrauchten Baustoffen, und dem Schwerpunkt auf Familien- und Kinderfreundlichkeit. Die Pyramide wurde proportional wie die Cheopspyramide in Ägypten gebaut. Die Pagode hat ein Hochdach, welches über den See hinausragt und eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Opernhaus von Sidney aufweist. Gleich daneben ein Haus im Thai-Stil, welches sich ebenfalls gut in das Milieu einfügt.
Einige Häuser in CHRISTIANIA wurden übrigens von deutschen Zimmerleuten – sogenannten ”fahrenden Gesellen” erbaut, nach alten handwerklichen Traditionen, mit Axt und Kelle, so etwa das Bananenhaus mit seinem Drachenschornstein und der Marmorterrasse mit keltischen Motiven. Als Nachbarn finden Sie ein Bauwagendorf ”Skurvognslandsbyen”.
Im Zentrum von Bauen und Umbauen oder Einrichten steht der Gedanke des Recycling – Wiederverwertung ist in CHRISTIANIA ein Gebot. Viele Häuser wurden mit guten, gebrauchten Baumaterialien aus der ”grünen Halle” gebaut. In dieser Halle hat man zahlreiche Arbeitsplätze geschaffen. Wenn in Kopenhagen alte Häuser abgerißen werden, landen die Baustoffe oft in der Grünen Halle, die früher, zu Zeiten des Militärs, als Reithalle diente. Sie liegt dort, wo die Pusherstreet aufhört – oder anfangt, wie man will.
Die Verwaltung ist eine Art strategische Anarchie, oder organisiertes Chaos, was ein Ausdruck dafür ist, daß CHRISTIANIA sich als gesellschaftliches Experiment versteht. Die Leute werden zu einem bewußten Lebensstil angehalten, um selbständiger und unabhängiger von Vater Staat werden zu können. Freilich wird in CHRISTIANIA niemand gezwungen, etwa seine individuelle Lebensweise verteidigen oder rechtfertigen zu müssen. Leben und Leben lassen, heisst die Devise!
Einige Häuser in CHRISTIANIA wurden übrigens von deutschen Zimmerleuten – sogenannten ”fahrenden Gesellen” erbaut, nach alten handwerklichen Traditionen, mit Axt und Kelle, so etwa das Bananenhaus mit seinem Drachenschornstein und der Marmorterrasse mit keltischen Motiven.
Es gibt lediglich wenige Grundregeln an die man sich zu halten hat: so muß man natürlich Miete zahlen, für Hunde oder andere Tiere sorgen und aufpassen, seine Nachbarn nicht zu belästigen. Strikt untersagt ist Autofahren auf dem gesamten Gelände und Handel mit den Häusern. Also irgendwie: viel Freiheiten gibt es, aber dadurch auch viel persönliche Verantwortung. In etwa die Grundessenz anarchistischer Lebensweise.
CHRISTIANIA ”regiert” sich kurz folgendermassen. Die Freistadt ist in sogenannten ”Autonome Dörfer” gegliedert. Das sind keine Dörfer im herkömmlichen Sinne, sondern Geländeabschnitte, oder auch größere Gebäude mit vielen Aktivitäten, etwa ”Loppebygningen” (Flohgebäude), in dem sich eine Veteranautowerkstatt, ein Restaurant, ein Flohmarkt, die Post, Musikloppen und eine Gallerie mit einer Touristenführung befindet. Diese Dörfer halten regelmäßig Sitzungen ab, wo Beschlüsse getroffen werden, die dem ”Fællesmøde” (Gesamtversammlung von CHRISTIANIA) vorgelegt und dort debattiert und entweder abgelehnt oder akzeptiert werden. Man hört sich die Beschlüsse an, nimmt dazu Stellung, und in der Regel findet man irgendeine Kompromisslösung.
Es gibt aber auch Leute, die politisch apathisch sind, nichts mit Politik zu tun haben wollen, und wie in jeder Basisdemokratie, ja wie in der Demokratie überhaupt, sind es oft die Starken und durchsetzungsfähigen Leute in einer Gruppe, welche letztendlich Entscheidungen treffen und politisch gestalten. CHRISTIANIA ist ja nun schon 32 Jahre alt, dabei haben sich auch hier sehr starke Traditionen des ”alten” CHRISTIANIAs herausgebildet, die nur schwerlich zu durchbrechen sind, so wie ein unberührter Dschungel. Vielleicht ist es an der Zeit, daß die neue Generation mehr Einfluß bekommt?
Dennoch ist CHRISTIANIA ein Mirakel in einer kapitalistischen Gesellschaft. Es ist eine Gemeinschaft, in der es sich nicht darum dreht, etwas zu besitzen, sondern wo man eher die Dinge benutzt, in der praktische Fähigkeiten eher gefragt sind als bloßes Theoriewissen oder gar Besserwisserei. CHRISTIANIA ist voller Wiedersprüche, wie alle Versuche, alternative Lebensweisen zu verwirklichen.
Schon immer musste CHRISTIANIA mit einem Damoklesschwert über dem Haupt leben: daß die dänische Gesellschaft in Form des Staatsapparates den Laden dicht macht oder sonstwie schwerwiegend in das Leben in der Freistadt eingreift. Dies hat ein irgendwie unwirkliches Solidaritätsgefühl geschaffen, aber auch neue Blinkwinkel im Überlebens-prozeß und neue Initiativen, und vor allen Dingen viel weniger Normen und Gebote als ”draußen” in der Gesellschaft, die sich – so sieht man es in CHRISTIANIA – in einer Krise befindet. Hier gibt es bei weitem nicht so viel Überfluss und Stress und Hetze, obwohl CHRISTIANIA eine Art Kind der dänischen Gesellschaft ist und in diesem Jahr den 32-jährigen Geburtstag feiern wird.